Müssen sich Radfahrer ein Mitverschulden anrechnen lassen, wenn sie ohne Helm einen Unfall haben und sich dabei eine Kopfverletzung zuziehen? Macht es einen Unterschied, ob der Unfall sich in 2011 oder später ereignet?
Der Fall:
Im letzten Jahr hatten wir ein Mandat übernommen, in dem es um folgenden Sachverhalt ging:
Ein junger Mann fährt mit seinem Rad durch die Stadt. Er benutzt korrekt den Radweg, trägt aber keinen Helm. Als er eine von links einmündende Straße überqueren will, kommt aus dieser ein Pkw. Die Pkw-Fahrerin übersieht unseren Mandanten und es kommt zur Kollision. Nicht nur das Fahrrad ist beschädigt, sondern der Radfahrer hat sich auch Verletzungen zugezogen, unter anderem auch am Kopf. Eine Narbe an der Stirn wird bleiben.
Wir haben uns an die Versicherung des Pkw gewandt und Schadenersatz und Schmerzensgeld verlangt. Die Versicherung regulierte den Sachschaden zu 100 %. Das Schmerzensgeld für die Verletzungen zahlte sie aber nicht in voller Höhe. Die Versicherung nahm hier einen Abzug von 20 % vor. Warum? Die Versicherung ging von einem Mitverschulden unseres Mandanten aus. Dieses setzte sie mit 20 % an. Sie meinte, dass die Kopfverletzungen unseres Mandanten nicht oder nicht so schwer eingetreten wären, wenn er einen Helm getragen hätte. Wenn unser Mandant also grundsätzlich Anspruch auf ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000,00 € hätte, so würde die Versicherung seinen Anspruch um 1.000,00 € kürzen; er bekäme dann nur noch 4.000,00 €.
Das Problem:
Verhält sich die Versicherung korrekt? Oder hat unser Mandant Anspruch auf das volle Schmerzensgeld? Eines steht fest: Eine gesetzliche Helmpflicht gibt es nicht. Aber hätte der Radfahrer nicht eventuell auch ohne eine gesetzliche Pflicht, gewissermaßen zu seinem eigenen Schutz, einen Helm tragen müssen?
Die Lösung:
Der BGH hatte im Jahr 2014 über diese Frage zu entscheiden. Er sieht eine derartige Plicht zunächst einmal nicht! Die vielleicht entscheidenden Sätze des Urteils lauten:
„Allein mit dem Verletzungsrisiko und der Kenntnis davon lässt sich ein verkehrsgerechtes Verhalten jedoch nicht begründen. Auch der heutige Erkenntnisstand hinsichtlich der Möglichkeiten, dem Verletzungsrisiko durch Schutzmaßnahmen zu begegnen, rechtfertigt noch nicht den Schluss, dass ein Radfahrer sich nur dann verkehrsgerecht verhält, wenn er einen Helm trägt. Insoweit mag der Fortschritt der Sicherheitstechnik zwar in gewissem Maße Berücksichtigung finden. Die technische Entwicklung hat aber nur bedingte Aussagekraft für die Beurteilung der Frage, welches Verhalten tatsächlich dem heutigen allgemeinen Verkehrsbewusstsein entspricht.“
Nur hatte das Urteil leider einen „kleinen Haken“: Der BGH hatte über einen Verkehrsunfall aus dem April 2011 zu entscheiden. Da er in seiner Begründung maßgeblich auf das „heutige allgemeine Verkehrsbewusstsein“ abstellt, fand sich in dem Urteil auch eine zeitliche Einschränkung. In dem Urteil heißt es:
„Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist daher (…) daran festzuhalten, dass Schadenersatzansprüche eines Radfahrers, die im Straßenverkehr bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen erlitten hatten, die durch das Tragen eines Schutzhelms zwar nicht verhindert, wohl aber hätten gemildert werden können, jedenfalls bei Unfallereignissen bis zum Jahr 2011 grundsätzlich nicht wegen Mitverschuldens (…) gemindert sind.“
Der BGH hat in seinem Urteil also nicht für immer und für alle Ewigkeit geurteilt. Er hat – ausdrücklich – nur gesagt, dass dies „jedenfalls“ für Unfälle bis zum Jahre 2011 so sei. Damit stellt sich natürlich die Frage, was denn nun ab 2011 gelten soll: Muss man für Unfälle in 2012 bereits ein Mitverschulden annehmen? Oder erst bei Unfällen ab 2016 oder 2017?
Damit war für Unfälle nach 2011 für die Versicherungen natürlich Tür und Tor für weitere Kürzungen geöffnet. So eben auch in unserem Fall, in dem die Versicherung den Anspruch unseres Mandanten um 20 % kürzen wollte.
Die spannende Frage ist aber: Können sich die Versicherungen für Unfälle nach 2011 zu Recht auf das BGH-Urteil berufen und dem Verletzten doch ein Mitverschulden anlasten?!? Wir meinen: Nein! Wenn man regelmäßig am Straßenverkehr teilnimmt, so vermögen wir nicht zu erkennen, dass der Anteil der Radfahrer mit Helm seit 2011 signifikant zugenommen hätte. Man sieht nicht mehr Radfahrer mit Helm als noch vor einigen Jahren. Es gibt diesbezüglich auch keine neuen wissenschaftlichen oder statistischen Erkenntnisse. Dementsprechend glauben wir auch nicht, dass sich seit 2011 bis heute das „allgemeine Verkehrsbewusstsein“ signifikant geändert hat. Wir sind vielmehr der Auffassung, dass auch heute noch ein Mitverschulden des Radfahrers ohne Helm nicht angenommen werden kann!!!
Konsequenterweise haben wir die Versicherung dann auch verklagt! Und, siehe da, nach Klageerhebung knickte die Versicherung ein und zahlte anstandslos die Restsumme!
Was lernen wir daraus? Wenn einem selbst derartiges Ungemach widerfährt, die Versicherung also einen Schmerzensgeldanspruch wegen Mitverschuldens kürzt, sollte man nicht sofort aufgeben, sondern gegebenenfalls fachlich kompetente, also anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen. Ein Anwalt kostet zwar auch Geld, er ist aber nicht der Versicherung, sondern seiner Mandantschaft verpflichtet! Er holt eventuell auch da noch etwas für Sie heraus, wo man selbst schon aufgegeben hätte…